von Mareike Rabea Knevels
Ihre gezeichneten Erinnerungen werden lebendig, als sich das Skizzenbuch von Florence Miailhes Mutter öffnet. Es sind Erinnerungen an die Flucht vor den Progromen in Odessa, die ihre Mutter als Kind erlebte und die der Ausgangspunkt für den wunderschönen Film „DIE ODYSEE“ sind.
In leuchtenden Ölmalereien führt die Regisseurin Florence Miailhes den Ort ein, in dem die Geschwister Kyona und Adriel leben. Es ist ein fiktiver Ort, umgeben von friedlichen Wäldern. Eine Elster hüpft in den Baum, in den Kyona geklettert ist, und nascht eine Kirsche. Kurz darauf steigen Rauchschwaden auf und hüllen die Landschaft in graue Flecken.
Faschistische Truppen bedrohen den kleinen Ort und zwingen Familie der Geschwister zur Flucht. Bei einer Zugkontrolle werden die Kyona und Adriel von ihren Eltern getrennt und die gemalte Reise über den Kontinent beginnt.
Urte Zintler ist eine der Animator:innen des Films und zu Gast im Simmerner Pro-Winzkino. Sie ist aus Leipzig angereist, wo sie lebt und arbeitet und wo auch ihr Trickfilmstudio „Federfisch Animation“ sitzt.
Urte Zintler ist nicht nur Animatorin sondern auch Trickfilmerin, Autorin, Zeichnerin und Dozentin. Ihr Spektrum an Stilen und Techniken ist weit gefächert: so arbeitet sie mit Zeichentrick, Computeranimation und analoger Öl-auf-Glas-Animation, die in TV-Serien, Kurzfilmen oder im Kino zum Einsatz kommen.
Ein Mammutprojekt
„DIE ODYSSEE“ ist ein Mammutprojekt: Knapp 12 Jahre wurde daran gearbeitet, von der ersten Idee bis zur Fertigstellung. Zintler ist nach zehn Jahren mit ihrer Kollegin Aline Helmcke ins Projekt eingestiegen. Mit zwei weiteren Animationsteams arbeiteten sie von Prag, Toulouse und Leipzig an dem Film, der eine analoge Öl-auf-Glas-Animation ist.
Ölfarbe auf Glas – das bedeutet auch „Straight-Ahead-Animation“. Ein Verfahren, bei dem die erste Schlüsselpose eines Charakters gemalt und dann daran weiter gearbeitet wird, um die gewünschte Bewegung zu erzeugen. Ein analoges Verfahren, bei dem nicht nur mit dem Pinsel, sondern auch mit dem Finger, Wattestäbchen oder Schwämmen gearbeitet wird. Farbflecken sind bei DIE ODYSSEE teilweise auf unterschiedlichen Glasplatten animiert.
Urte Zintler und ihre Kollegin Aline Helmcke saßen anderthalb Jahre hinter dicken Moltonvorhängen in einem Leipziger Souterrain – Studio und malten in dieser Zeit rund 16 Minuten Film auf Glas. „Die Atmosphäre des Studios ist der im Kino ganz ähnlich“, lacht Urte.
Die beiden Animatorinnen malten hauptsächlich die Schneesequenz des Films. Ein sehr berührender Moment, in dem Kyona ihren Bruder Adriel in einem Schneegestöber verliert und letztlich von einer Hexenfigur im Stile Baba Jagas gerettet wird.
„Die Arbeit war furchtbar aufregend und auch ein wenig unfassbar, weil wir während des Malens natürlich nicht wussten, wie das Bild im Film wird. Wir haben live an dem Bild gearbeitet und sozusagen live animiert.“ Je nach Größe und Komplexität des Bildes dauerte der Prozess unterschiedlich lang.
Das Besondere an der Ölfarbe ist zum einen der lange Trocknungsprozess „Bis auf die braune Farbe, die trocknet sehr schnell“, erklärt Urte, „in die mussten wir manchmal Öl reinmischen, um den Prozess zu verzögern.“ Der Trocknungsprozess ermöglichte den Animator:innen eine lange Bearbeitungszeit der einzelnen Bilder, die sie je nach Szene brauchten.
Zum anderen hat Ölfarbe eine einmalige Brillanz. Diese Farbintensität zieht den Zuschauenden 84 Minuten lang in seinen Bann. Lässt Blätter zu Kreisen werden, umherfliegen, zu Tupfen, zu tanzenden Farben, werden. Lässt ein animiertes Kunstwerk in Öl und Film entstehen.
Die Regisseurin Florence Miailhe tourte während der Animationsphase alle drei Wochen zwischen den drei Trickfilmstudios umher. Dieser intensive und persönliche Austausch war wichtig, denn nur so konnte der haptische und handwerkliche Rahmen des Films auch in dieser Weise umgesetzt werden.
Die malerische Handschrift
Den ganzen Film sah Urte Zintler dann das erste Mal bei der Premiere in Frankreich. Beim ersten Sehen kam natürlich auch die eigene Kritikerin zum Vorschein, „das ist ja normal, denn man selbst ist seine größte Kritikerin. Im Nachhinein will man immer alles anders und besser machen.“
Mittlerweile hat sie DIE ODYSSEE zwischen zehn und 15 mal gesehen und versucht, anhand der malerischen Handschriften die einzelnen Animator:innen der anderen Teams zuzuordnen. „Jede und jeder hat seinen eigenen Duktus, eine ganz eigene malerische Handschrift. Die kann man natürlich trotz der Professionalität nie ganz vermeiden.“
Doch gerade diese Unterschiedlichkeit, die sich beim Sehen des Films nur an manchen Stellen offenbart, tut dem Film gut und war von der Regisseurin Florence Miailhe so gewollt. „Manchmal waren wir ihr noch zu einheitlich“, erzählt Urte.
Der Puppentrick
Sie selbst ist über den Puppentrick zum Zeichentrick gekommen. Urte Zintler machte eine Ausbildung in klassischer Zeichentricktechnik am LTAM in Luxembourg und studierte anschließend Trickfilm an der Kunsthochschule Kassel und dem Surrey Institute of Art and Design/Farnham in Großbritannien sowie Freie Graphik an der HGB in Leipzig.
„Kinderfilme haben mich damals nicht sonderlich interessiert. Aber ich habe Die „Muppet Show“ begeistert gesehen, überhaupt hat mich Puppentrick total angezogen. Es ist die Arbeit mit dem Material und das Lebendig-werden-Lassen, das mich so fasziniert hat.“
Einen Puppentrickfilm hat Urte zwar nicht nicht gemacht, aber das könnte natürlich auch ein Projekt in der Zukunft sein. Im Moment arbeitet sie als Regisseurin für eine deutsche Kinderfilm-Produktion, wobei ihr das nur Hinter-der-Kamera-Stehen nicht immer so einfach fiele.
Ihre eigenen Produktionen heißen „Die Gedanken sind frei“ oder „Leerstelle“, ein Film, der Heimat thematisiert und auf Gedichtfragmenten der Schriftstellerin Hilde Domin beruht:
„Man muss doch weggehen können
Und doch sein wie ein Baum:
Als bliebe die Wurzel im Boden
Als zöge die Landschaft und wir ständen fest…“, zitiert Urte die Hilde Domin.
Worte, die auch Teil von DIE ODYSSEE sein könnten, und so den Bogen zu einem Film spannen, der von Herkunft und Heimat erzählt, vom Verlorensein und Finden, von einer Fluchtgeschichte, die nie an Aktualität verliert. Und das in einer wunderschönen Art und Weise, sodass man mit einem traurigen und einem verzauberten Auge den Kinosaal verlässt.
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Filmempfehlung von Urte Zintler
In Deutschland werden Trickfilme oder Animierte Filme voreilig in die Sparte der Kinder-oder Jugendfilme gesteckt, während sie in anderen Ländern wie in Frankreich oder England von einem großen Publikum gesehen werden. Bekannte Beispiele sind Ari Formans WALTZ WITH BASHIR oder LOVING VINCENT von Dorota Kobiela und Hugh Welchman.
Liebe Urte, welche Trickfilme sollen wir uns unbedingt mal ansehen?
„INSTITUTE BENJAMENTA der Brothers Quay, wegen dieses Films bin ich überhaupt beim Independent Film gelandet. Der Film ist etwas ganz Besonderes: Real Film wird mit Stop-Trick gemischt. Ein hybrides Format, das sich etwas Surrealem annimmt und sich inhaltlich mit dem Unbewussten, den Trieben des Menschseins auseinandersetzt. Der Film basiert auf Robert Walsers Roman „Jakob von Gunten“.
Eine weitere Empfehlung von mir wäre das japanische Zeichentrickstudio Studio Ghibli und deren Film PRINZESSIN MONONOKE. Das ist auch ein toller Film für die Jugend und Erwachsene.“